Zwischen Westworld und Wendy

Da reite ich (relativ) friedlich meiner Wege, erfreue mich an der ungezähmten Natur und denke an nichts Böses, als mich die O’Driscolls plötzlich unter Feuer nehmen. Vier gegen ein – die bringen wohl auch immer ne Knarre mit zum Messerkampf. Also Waffe auswählen, ziehen, zielen und dann auch noch treffen. Doch bevor die ersten Kugeln in die Leiber meiner Gegner einschlagen und sie vom Pferd holen, liege ich schon auf dem Boden und mache mich meinerseits auf ins Reich der ewigen Jagdgründe. Es soll nicht mein, oder vielmehr Arthur Morgans, letzter Tod gewesen sein. Denn wo man als Spieler in anderen Titeln in einem Wimpernschlag zwischen Handfeuerwaffe und Raketenwerfer mit aufgepflanztem Bajonett wechselt, verdammt mich Rockstars lang erwartetes Western-Epos „Red Dead Redemption II“ zum Realismus – soweit das denn möglich ist.

Brrrrr: KALT!

Über die wunderbaren Features von RDR2 ist schon im Vorfeld der Veröffentlichung in dieser Woche viel geschrieben worden: Kutschen ziehen ihre Spurrinnen in den frischen Matsch. Mein Pferd will gestriegeln und liebgehabt werden als wäre ich Wendy, sonst ist es mir kein treuer Begleiter. Ich kann meine Haare nur kürzer, nicht aber länger schneiden, wie noch in GTA V. Der Schnee in höheren Lagen fühlt sich so echt an, dass Spieler auf der ganzen Welt nicht die große Karte erkunden wollen, sondern lieber Penisse in die weiße Pracht laufen. Und natürlich der heilige Gral des Realismus: Sich in der Kälte zusammenziehende Pferdehoden.

Doch wo viele auf Grafik und Physikmodell gaffen – die wahre Stärke von RDR2 liegt in der großartigen und ganz Rockstar-typisch leicht abgedrehten Story rund um die Räuberbande von Dutch van der Linde. Und in Entdeckung der Langsamkeit und der Leere. Wo andere Open-World-Entwickler ihre Welt vollstopfen mit Gebäuden, Menschen und Missionen lässt Rockstar die weite Wildnis von Nordamerika auch mal weit und wild sein, was in conclusio auch heißt: Leer. Über Meilen auf dem Rücken meines treuen Pferdes treffe ich auf kaum etwas, außer ein paar Hasen, ansonsten nur weite Graslandschaften und dichte Wälder. Langweilig, möchte man meinen. Mitnichten: Denn die Landschaft auf der größten Map der Rockstar-Geschichte wirkt trotz der vermeintlichen Leere lebendig und dynamisch – auch ganz ohne NPCs.

Gott zum Gruße!

Die gibt es natürlich auch, nur in größerer Häufung eben meist in der Nähe von Siedlungen, in denen ich meinen  Arthur schön, betrunken und natürlich auch gefährlicher machen kann: Barbier, Saloon und Büchsenmacher sei Dank. Doch nicht nur mit den ordentlichen Anlaufstellen, mit fast jedem Charakter in der Welt von RDR2 kann ich interagieren und sei es, dass ich nur die Hand zum Gruß erhebe. Und plötzlich reißt mich die riesige Auswahl an Möglichkeiten aus meiner Leere und vermeintlichen Langeweile.

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Was in den ersten Spielstunden aber auch auffällt: Um die Steuerung ist es nicht immer zum Besten bestellt. Gerade im Zusammenspiel mit der Kameraperspektive spielt man sich schon mal in eine Ecke. Und gerade in Feuergefechten, in denen Medizinfläschchen und besondere Tinkturen mein Leben verlängern sollen, ist es anfangs noch reichlich schwer, den Überblick zu behalten. Nun gut, Realismus ftw halt: Es wird wohl auch im richtigen Leben nicht zu einfach sein, in der Tasche seine angebrochene Flasche Gin zu suchen, während einen böse Buben ins Kreuzfeuer nehmen.

Böse Buben

Böse Buben? Das sollte doch eigentlich ich sein! Kann ich auch, denn nicht nur Wendy steckt in RDR2, sondern auch ne Menge Westworld. Kanalisiere ich nur den inneren Gunslinger, muss ich allerdings damit rechnen, dass niemand mehr mit mir spielen möchte. Andere Figuren in der gesamten Welt reagieren anders auf mich, abweisender, oder wollen gar nicht mit mir sprechen. Dadurch gehen natürlich auch einige der herrlichen Nebenmissionen verloren. So ist das Leben mit niedrigem Ehre-Wert. Aber auch, wenn ich vor Dreck nur so stinke. Bin ich hingegen ein frisch gebadeter Bürger mit gutem Leumund, ist man mir gegenüber aufgeschlossen. Überhaupt will das eigene Vorgehen immer gut durchdacht sein, sowohl kurz- wie auch langfristig. Denn oft genug bringt es rein gar nichts, mit gezogenem Colt und Wut im Bauch irgendwo hereinzustürmen. Da ist eher die feine Klinge (Wurfmesser oder Tomahawk) gefragt.

Wer will, kann sich diesem ganzen Kram aber auch verweigern und einfach nur reiten. Reiten, reiten, reiten, als gebe es kein Morgen. Ähhh. Ich meine Morgan.

 

 

 

Björn

Björn

Serienaficionado, Gamefanatic, Musiknerd und bekennendes Web 2.0-Opfer mit einer besonderen Vorliebe für jedweden Schwachsinn, den das Netz zu bieten hat.
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