Der eine organisiert die Partys, die anderen tanzen auf dem Tisch. Die eine veranstaltet das Chaos, die anderen stellen die Ordnung wieder her. In einer Clique spielt jeder seine Rolle. Je verlässlicher alle sind im Zusammenspiel, desto besser funktionieren die Freundesbande.
Um eine Clique und die Rolle jedes Einzelnen darin geht es auch in Haruki Murakamis „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“. Der Roman ist das junge Buch eines fast schon alten Mannes. Es ist das beste Buch der ersten Jahreshälfte, vielleicht aber auch schon des ganzen Jahres. Ich musste auf mein – ausgeliehenes – Exemplar gut aufpassen. Sonst hätte der Besitzer es nie wieder gesehen. MEINE Clique hätte es vereinnahmt.
Dabei fängt das Buch sooo durchschnittlich an. Aber nur, weil Tsukuru Tazaki, die Hauptfigur, durchschnittlich ist – oder zumindest zu sein scheint. Im Gegensatz zu seinen vier Freunden trägt er keine Farbe im Namen. Eigentlich eine blasse Figur also. Und dann plant er auch noch Bahnhöfe (Tsukurus Nerd-Faktor)! Aber wenn man eines lernt im Buch, dann, dass es niemanden gibt auf der Welt, der schwach oder langweilig ist. In den „Pilgerjahren“ ist der, der sich am schwächsten fühlt, der Stärkste. Tsukuru muss eine große Bürde tragen.
Die Clique gerät aus dem Gleichgewicht. Eines Sommers kehrt Tsukuru – er studiert in Tokio – in seine Heimat Nagoya zurück. Er freut sich auf das Wiedersehen mit den alten, besten Freunden. Doch die schneiden ihn. Er versucht immer wieder, sie zu erreichen, bis er einen Telefonanruf erhält: Er solle sich von der Clique fernhalten, er wisse, warum.
Tsukuru weiß es nicht. Das schlimmste halbe Jahr seines Lebens beginnt. Es ist ein Wunder, dass er diese Phase überlebt. Allein, ausgeschlossen, weit weg von den Freunden in einer Großstadt, die nicht seine Heimat ist. Aber er schafft es und findet sogar einen neuen Freund, mit dem er den Alltag teilt. Dem riesigen Fragezeichen in seinem Leben, dem plötzlichen, mysteriösen Ausschluss durch die Freunde, geht er aber nicht nach. Er trägt die Last und droht, unter ihr zusammenbrechen.
Erst als er Sara kennenlernt, konfrontiert er sich mit den Dämonen seiner Vergangenheit. Die Freundin kann nicht glauben, dass er der rätselhaften Freundschaftskündigung nie auf den Grund gegangen ist. Sie ermutigt ihn zu seiner Reise in die Vergangenheit, die vor allem offenbart, wie seine Freunde den Normalo Tsukuru und seine Rolle in der Clique wirklich sahen.
„Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ ist das realistischte, normalste Buch von Murakami und das beste – aus vier Gründen:
- Das Buch ist eines der großartigsten Bücher zum Thema Freundschaft.
- Das Buch ist spannend. Warum wollen die Freunde Tsukuru nicht mehr sehen? Schon allein um das zu erfahren, habe ich flott weitergelesen.
- Das Buch ist tragisch. Tsukuru wird gezwungenermaßen Teil einer Tragödie, nur weil seine Freunde es so beschließen. Das verdirbt ihm das Leben. Da leidet man mit.
- Es gibt einige Farbkleckser in der nüchternen Erzählung. Mein persönlicher hat mit der großartigen Übersetzung und dem spröden Bahnhofs-Thema zu tun. Tsukurus Sara verlangt, dass er in seinem Leben einiges klärt. Er soll sozusagen das Feld bestellen, in seinem Fall den Bahnhof bauen. Das Bild des Bahnhofs passt wunderschön zu den deutschen Ausdrücken „den Hof machen“ oder „großen Bahnhof machen“. Zugegeben, das ist schon ZIEMLICH nerdig…
Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki, Dumont, 318 Seiten, Hardcover, 23 Euro.
Zur Leseprobe des Dumont Buchverlag „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ von Haruki Murakami
Inga Wolter
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