Visionäre einer neuen, alten Musik

Da ist so viel großartige Musik auf der anderen Seite des Ozeans. Das muss gesagt werden, im Nachklang des Eurovision Song Contest. Kendrick Lamars Album „To Pimp A Butterfly“ ist kaum abgefeiert, da veröffentlicht der Saxophonist Kamasi Washington sein Epos „The Epic“. Chöre zwischen Marvin Gaye und Raumschiff Enterprise schimmern hinter einer Musik, die man Jazz kaum nennen mag, aber muss.

Was die Großtaten miteinander zu tun haben? Die Musiker kennen sich gut, Washington hat an Lamars Album mitgewirkt. Und beide haben bei „You’re Dead!“ geholfen, dem Album eines Dritten, der wohl der Nukleus einer neuen Szene ist: Steven Ellison (Foto oben, Imago), gerade 31 Jahre alt, Visionär.

Das Flackern setzte 2008 ein. Da erschien „Los Angeles“, ein Album mit elektronischer Musik, wie ich sie bis dahin nicht gehört hatte. Das muss nichts heißen, elektronische Musik war mir bis dahin egal. Doch zu dem Song „Camel“ sah ich ein rot glühendes Kamel im Passgang durch Pixelsand stapfen. Vor dem inneren Auge, versteht sich. „Kranker Scheiß“, diagnostizierte ein Bekannter, mindestens genauso beeindruckt.

Und das Kamel ging nie wieder so ganz. „Flying Lotus“ hieß sein Schöpfer, mit bürgerlichem Namen eben Steven Ellison, ein DJ aus Kalifornien, der Videospiele und Jazz zu seinen Einflüssen zählt. Zu seiner Geschichte gehört auch, dass Alice Coltrane, die Ehefrau des Giganten John Coltrane, seine Großtante ist. Gene, Anekdote, wie auch immer.

2008 gründete Ellison sein Label „Brainfeeder„, kollaborierte mit Talenten wie Gonjasufi und lieferte selbst zwei weitere wundervolle Alben ab, „Cosmogramma“ und „Until The Quiet Comes“. Das Album „You’re Dead!“ von 2014 klang bedenklich nach Eklektizismus. Zu sehr hört man den Miles Davis der Fusion-Jahre darin, der unverwüstliche Herbie Hancock soll sogar persönlich dabei gewesen sein. Aber eben auch Kendrick Lamar und Kamasi Washington.

In diesem Frühjahr scheint die Saat der vergangenen Jahre voll aufzugehen. Schön, dass Ellison, Lamar und Washington im Netz recht freigiebig mit ihrer Musik sind. An „The Epic“ ist in den ersten Tagen nach dem Erscheinen physisch nur schwer heranzukommen. Spotify und Youtube müssen helfen.

Den Nervensträngen dieser von Afroamerikanern gespielten Musik kann man aktuell noch weiter folgen, etwa zu D’Angelos Album „Black Messiah„, das Ende 2014 die Kritiker hingerissen hat. Oder zu Matana Roberts. Die 36-jährige Altsaxophonistin ist mit ihrem bislang drei Alben umfassenden Projekt „Coin Coin“ vielleicht die radikalste Vertreterin, indem sie tief in der Geschichte der Afroamerikaner gräbt. Aber was heißt Geschichte? Wann lagen musikalische Vision und zeitgeschichtliche Relevanz vor dem Hintergrund der Gewalt in Baltimore, North Charleston und Ferguson zuletzt so eng beieinander?

Video auf Matana Roberts‘ Webseite

Download von der offiziellen Webseite, Foto: Jason Fulford
Matana Roberts Foto: Jason Fulford, offizielle Webseite

Anders als die vergleichsweise smarten Lamar und Washington wird Matana Roberts mit ihrer manchmal schmerzhaft intensiven Musik wohl nicht zu den Massen finden. Doch die Kritiker hören längst genau hin – und meine Platten stammen nicht aus obskuren Winkeln, sondern vom Saturn um die Ecke.

Bestimmt lassen sich leicht weitere Namen und Alben finden. Aber was ist das für ein Einstieg: „To Pimp A Butterfly“ von Kendrick Lamar, „The Epic“ von Kamasi Washington und das „Coin Coin“-Projekt von Matana Roberts. Und was Steven Ellison auch immer noch im Köcher hat. Gute Zeiten für gute Musik.

Timo

Timo Ebbers (37) glaubt nicht an ein Leben nach Hollywood und könnte sich durchaus vorstellen, ein Zimmerchen im Edith-Ruß-Haus für Medienkust zu bewohnen.