Die Bücher meines Lebens

Für NWZ-Volontärin Freya Adameck ist der Fall ganz klar: Tagebuch schreiben ist trotz Facebook & Co. nicht ausgestorben! Seit über zehn Jahren führt sie ein Tagebuch. Warum es so toll ist, seine Gedanken ganz analog in ein Buch zu schreiben, beschreibt die 23-Jährige im Oldennerd.

 

Von Freya Adameck

 

Ein Blick auf Seiten mit der eigenen Handschrift, mal ordentlich und mal chaotisch – unterbrochen von selbst gekritzelten kleinen Bildchen, Comics, eingeklebten Eintrittskarte, Grußworten von geliebten Menschen, Fotos, persönlichen Hasspredigten und Lobesliedern… Es sind viele kleine Beweise für die eigene Vergangenheit. Sie sind nicht für andere gedacht, nicht dafür gedacht, sie zu posten, sie Freunden oder Wildfremden im Internet auf sozialen Plattformen zu präsentieren. Sie sind nur für mich! Als eigener kleiner Schatz.

 

Damit ging alles los: Als ich zehn Jahre alt wurde, schenkte meine Mutter mir mein erstes Tagebuch. Passend zum Alter mit Diddl Maus Motiv.

 

Die kleinen kostbaren Kieselsteine – oder: Gründe, warum Tagebücher eine gute Sache sind

Die letzte Seite des ersten Tagebuchs zu beschreiben, ist ein tolles Gefühl. Aber das Schönste am Tagebuchschreiben offenbart sich erst, wenn man Geduld und Stringenz beweist: Eines Tages blättert man und liest von Dingen, die einem zunächst nichts mehr sagen. Und erst nach ein paar Augenblicken ploppt im Kopf eine Ahnung auf. Aber erst mithilfe des Tagebucheintrages, den man sich dann immer und immer wieder durchliest, kann man sich schließlich an die Szene erinnern. Ich persönlich habe dann immer das Gefühl, als wäre ein verlorener Teil von mir zurückgekehrt. Ganz egal wie spannend das Ereignis, worüber ich schrieb, an sich wirklich war.

Es ist klar, ich werde es niemals schaffen, alle Gedanken aufzuschreiben. Wenn das Leben wie der Ozean ist, sind meine Gedanken die Kieselsteine auf dem Grund. Durch ein Tagebuch kann man sich viele Kieselsteine, die schon lange auf dem Grund liegen, noch einmal hochholen und ansehen, aber man wird es nie schaffen, sich alle anzusehen.

Vielleicht ist es eine Kollektivangst, die alle Tagebuchschreiber miteinander teilen: die Angst vor dem Vergessen. Die Angst davor, dass unter den Millionen von Gedanken, die wir tagtäglich haben, wohlmöglich einer ist, den man später für etwas ganz Wichtiges gebrauchen könnte, und dass dieser dann nicht mehr abrufbar ist, weil wir ihn unserem sumpfigen Hirn überlassen haben. Nicht-Tagebuchschreiber können sich das manchmal gar nicht vorstellen, aber ich finde den Gedanken, nicht alle meine Gedanken festhalten zu können, traurig.

 

Aufräumen mit verstaubten Tagebuch-Mythen

Als Kind habe ich tatsächlich mal mit der ganz klischeehaften Anrede „Liebes Tagebuch …“ angefangen. Doch schon kurze Zeit später bin ich zu einer distanzierteren Version übergegangen. Ich rede ja nicht mit meinem Tagebuch. Das Tagebuch ist kein Brieffreund, an den man regelmäßig schreibt. Es ist überhaupt nicht lebendig, also verdient es auch keine Anrede. Somit sollte klar sein: Das Tagebuch ersetzt weder Freunde noch einen Psychologen.

Nein, nur weil es Tagebuch heißt, muss man nicht zwangsmäßig jeden Tag hineinschreiben. Das macht auch gar keinen Sinn. Denn manchmal passiert einfach nix Interessantes. Ja, manchmal hat man einen ziemlichen Durchhänger, und das ist ok so. Ich kenne viele Freunde, die selbst auch Tagebuch schreiben, und wir alle machen diese erste Phase durch, in der man ganz optimistisch, mit einem übersteigerten Perfektionsdrang in Schönschrift jeden Tag malerische Szenerien zu Blatte führen will. Das geht vielleicht eine Woche gut, aber dann hört man auf damit. Warum? Weil man anfängt, sich seine vergangenen Artikel durchzulesen und merkt, dass da kein Leben drinsteckt. Man merkt, dass man mehr Schein als Sein präsentiert, und das in seinem eigenen Tagebuch, bei dem es ja, wie oben beschrieben, eben nicht um Performance nach außen geht. Und dann überdenkt man seinen Ansatz: Idealerweise zentriert man seine zukünftigen Einträge dann auf das Wesentliche, darauf, was man wirklich denkt!

 

Mittlerweile sind fünf Bücher vollgeschrieben, und das sechste ist auch schon in Arbeit. Bei der Wahl des Buches kommt es ganz darauf an, in welcher Lebensphase man sich gerade befindet.

 

Im Wirbel der Ereignisse – oder: Der beste Zeitpunkt für einen Tagebucheintrag

Tagebuchschreiben eignet sich super als kleines Ritual vor dem Schlafengehen. Wenn man sich noch ein paar Momente gönnt, um über den Tag nachzudenken, merkt man, wie man ruhiger wird. Es hilft, um sich über das klarer zu werden, was man am Tag erlebt hat. Nach einem spannenden Traum bietet es sich aber natürlich auch an, frühmorgens etwas einzutragen.

Apropos Zeit: Wer kennt das? – Das Leben plätscherte so vor sich hin, und plötzlich passiert voll viel auf einmal. Innerhalb mehrerer Tage macht man viele neue Erfahrungen, begegnet inspirierenden Menschen, trifft folgenschwere Entscheidungen – tja, und dann setzt man sich nach Tagen hin und denkt sich: wie zum Henker finde ich nur die passenden Worte für diese Live-Change-Ereignisse? Einen geeigneten ersten Satz zu finden, ist manchmal wie eine Farbe zu beschreiben, ohne ihre exakte Bezeichnung verwenden zu dürfen. Einfach nichts wird dem Ereignis gerecht. Und während das Gehirn passende Worte sucht, versucht das ganze Wesen noch die neuen Erfahrungen zu verarbeiten und sich über alles klar zu werden. Was ich damit sagen will: Kein Stress, wenn es mal offensichtlich sehr viel zu schreiben gäbe, aber die Worte dazu noch nicht kommen wollen. Manchmal braucht man eine gewisse Zeit, um sich von Ereignissen ein Bild machen zu können und um dem, was man erlebt hat, auch gerecht zu werden. Wir sind eben doch keine Maschinen, und das Tagebuch sollte auch keine reine Kartografie sein. Vor allem wenn man über emotionale Ereignisse schreiben möchte, passiert es nicht selten, dass man erst nach Wochen Worte dafür findet. Das ist aus meiner Perspektive total in Ordnung.

Mein Tipp: Erst überlegen, ob man heute wirklich etwas zu schreiben hat, und DANN das Tagebuch aufschlagen. Sieht man erst die leere Seite vor sich, macht man sich nur Druck.

 

Immer bereit sein – Gedanken halten sich nicht an Arbeitszeiten

Prinzipiell kann man überall Tagebuchschreiben, aber die eigenen vier Wände geben einem die benötigte Ruhe am besten. Zur Not habe ich aber immer ein kleineres Notizbuch dabei, in das ich unterwegs etwas eintragen kann, denn Gedanken halten sich natürlich nicht an feste Arbeitszeiten. Sie kommen, wann sie wollen, und es ist immer gut, Zettel und Stift parat zu haben. Ein kleines Notizbuch reicht, je kleiner, desto besser eigentlich, denn dann ist man gezwungen, seinen Kerngedanken sofort griffig zu formulieren und hat später nicht das Problem, dass man aus seinem eigenen Geschwafel nicht mehr schlau wird. Außerdem passen kleine Notizbücher in jede Handtasche. Bei der Wahl des Ortes gilt es ansonsten eigentlich nur darauf zu achten, dass man sich wohl fühlt. Sonst bringt man am Ende nur Kauderwelsch zu Papier.

Ich gebe meinen Tagebüchern auch manchmal Titel. „Tagebuch“ ist ja im Grunde nur ein Arbeitstitel. Mein vergangenes Tagebuch bekam von mir den Titel „der Gedankensammler“.

 

Wenn Gedanken wie Wasser sind

Wenn man so wie ich früh mit dem Tagebuchschreiben anfängt, ist es ulkig zu sehen, wie sich die eigene Handschrift verändert. Zum einen, weil man älter wird, zum anderen weil man natürlich in verschiedenen Gemütsverfassungen schreibt. Mal hat man Zeit und schreibt ordentlich, mal will man zum Beispiel ganz schnell einen Traum festhalten und kritzelt nur Stichpunkte hin.

Die Herausforderung, sich den eigenen Gedanken zu stellen, ist nicht ganz leicht. Es ist eine Sache, etwas im Kopf zu haben, aber eine ganz andere, diese in feste Worte zu kleiden. Ich stelle mir das gerne so vor: ein Gedanke ist wie Wasser, er schwappt hin und her, kann viele Formen annehmen, er ist irgendwie ganzheitlich. Und wenn du versuchst, einen Gedanken aufzuschreiben, schreibst du ihn im Grunde fest. Du nimmst ihm seine Ganzheitlichkeit und musst dich auf eine Haltung fixieren. Das ist manchmal gar nicht so leicht. Und dennoch macht es auch irgendwie süchtig. Und später mehrere Bücher in den Händen zu halten und zu wissen, dass das eigene Leben darin steckt: Das ist ein besonders schöner Moment.

 

(Bilder: Freya Adameck)

Jantje

Jantje

Online-Redakteurin bei NWZonline
Jantje Ziegeler (Jahrgang '85) ist im Herzen zwar eine Prinzessin, findet ihren Job als Journalistin aber auch allererste Sahne.
Jantje