„Beasts of No Nation“: Netflix pfeift auf’s Kinogeschäft

Nach etwas mehr als einer halben Stunde steht Agu vor einer Entscheidung, die kein Kind je zu treffen haben sollte. Schenkt er dem Mann, der vor ihm kniet, wimmernd und die Augen voller Angst, dem Mann, der – so erzählt es ihm der Anführer einer Gruppe der Kindersoldaten – für den Tod seiner Familie verantwortlich ist, das Leben – oder tötet er ihn. Neben ihm steht der Warlord, genannt „Commandant“, der sich selbst zu seinem neuen Vater erklärt hat, und fordert ihn auf, diesen ultimativen Treueschwur zu leisten. Agu entscheidet sich.

 

 

„Beasts of No Nation“ ist ein schonungloses Drama von Regisseur Cary Fukunaga (1. Staffel „True Detective“). Es erzählt die Geschichte eines Kindersoldaten in einem namenlosen afrikanischen Land. Getragen wird der Film von seinem jungen, direkt von einem ghanaischen Fußballplatz gecasteten Hauptdarsteller Abraham Attah, der mit Idris Elba als väterlich-freundlichem Warlord ein starkes Gespann bildet. Innerhalb von etwas mehr als zwei Stunden sieht man förmlich, wie alles kindliche aus Agus Augen verschwindet und einer verstörenden Abgeklärtheit weicht. Beim Filmfestival in Venedig wurde er dafür mit dem Marcello-Mastroianni-Preis für den besten neuen Jungschauspieler ausgezeichnet. Sein Gegenpart Elba schafft es mit seiner minimalistischen Gestik und Mimik, von Beginn an sowohl unsympathisch wie auch seltsam vertraut zu sein – ein krasser Bruch zu seiner Darstellung des Friedenskämpfers Nelson Mandela vor wenigen Jahren.

 

Großes Kino?

Großes Kino, könnte man meinen. Aber gerade in den USA kommt der Film nicht gut an. Nach einem Bericht von „Spiegel online“ haben vier große Kinoketten – Regal Entertainment, Cinemark, Carmike und AMC – sowie der Bundesverband der Kinoeigentümer angekündigt, „Beasts of No Nation“, zu boykottieren. Über einen Independent-Verleih fanden sich dennoch einige Kinos, die den Film zeigen.

Dann trat Netflix auf den Plan. Bisher macht der Streaming Dienst sein Geld bei Filmen hauptsächlich mit Zweit- und Drittverwertungen, das Seriengenre hat Netflix allerdings mitsamt den jahrzehntelang vorherrschenden Konsumgewohnheiten bereits radikal umgekrempelt. 12 Millionen Dollar zahlte das Unternehmen für den Film, dessen Produktionskosten von lediglich 6 Millionen nach Hollywood-Maßstäben gemessen geradezu lächerlich niedrig liegen. Und Netflix kaufte den Film nicht nur, sondern stellte ihn rechtzeitig zum 16. Oktober, dem offiziellen Kinostart, auch auf seiner Plattform bereit – ein radikaler Bruch mit den veralteten Verwertungsfenstern, die mindestens 90 Tage exklusiver Kinovorführungen vorsehen, bevor der Film online oder auf DVD/Blu-ray verfügbar ist.

 

Internet kills the Cinema-Star

Stellt Netflix jetzt also auch die Filmbranche auf den Kopf? „Beasts“-Regisseur Fukunaga erklärte der Berliner Zeitung: „Ich weiß nicht, ob ich mich diesbezüglich als Pionier bezeichnen würde. Wahrscheinlich wird man frühestens in einigen Monaten abschätzen können, ob sich in Sachen Kinoauswertung grundlegende Veränderungen einstellen. Mir ist einfach wichtig, dass möglichst viele Menschen meinen Film sehen.“ In Zahlen wird sich der Erfolg/Misserfolg von „Beasts of No Nation“ kaum festmachen lassen. Netflix veröffentlicht grundsätzlich keine Zugriffszahlen, in den 27 Kinos, die den Film in den USA zeigen, spielte er am Startwochenende rund 50.000 Dollar ein. Richtig interessant wird es allerdings im Januar in der Kinometropole Los Angeles. Dann werden dort die Oscars vergeben – und „Beasts“ gilt als heißer Anwärter auf mindestens eine Trophäe.

„Beasts of No Nation“ läuft seit dem 16. Oktober auf Netflix

Björn

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Serienaficionado, Gamefanatic, Musiknerd und bekennendes Web 2.0-Opfer mit einer besonderen Vorliebe für jedweden Schwachsinn, den das Netz zu bieten hat.
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