Warum Orson Welles das größte aller Filmgenies ist

Dieser Mann hat das Kino verändert und die Art, wie wir bewegte Bilder lesen. Nur scheint Orson Welles, dieser Gigant der Filmsprache, hinabgestiegen zu sein in den Untergrund der Filmgeschichte wie seine Figur Harry Lime in „Der Dritte Mann“ (Foto oben: Imago) in die Kanalisation Wiens: Seine Taten wirken nach und sorgen für Gesprächsstoff, doch der Mensch verschwimmt. An diesem 6. Mai wäre Orson Welles, der 1985 an Herzversagen starb, 100 Jahre alt geworden. Und das ist verdammt noch mal ein Grund, sich an ihn zu erinnern.

Da ist ein Streich für die Ewigkeit: Orson Welles narrte mit seinem Hörspiel „War of the Worlds“ am 30. Oktober 1938 leichtgläubige Bewohner an der US-Ostküste, die in Massenpanik vor außerirdischen Invasoren flohen – zumindest der schönen Legende nach. Da ist eine Zitter-Melodie für die Ewigkeit – das Harry-Lime-Thema aus „The Third Man“ (1949). Da ist, zumindest für manche Fans, eine Stimme für die Ewigkeit: Orson Welles leiht sie dem geheimnisvollen Robin Masters in der Fernsehserie „Magnum“.

Szene aus Citizen Kane: Orson Welles und Joseph Cotton. Foto: Imago
Szene aus Citizen Kane: Orson Welles und Joseph Cotten. Foto: Imago

Und da ist dieses Bild, das die Filmsprache verändert hat wie kaum ein zweites. Es stammt aus „Citizen Kane“ von 1941, den auch jene als einen der besten Filme aller Zeiten kennen, die ihn gar nicht gesehen haben. Ein Fläschchen und ein Glas ragen vom Nachtisch groß im Vordergrund der Kameraeistellung auf, dahinter eine Frau im Bett, dahinter stürzen besorgte Menschen durch die Tür. Gift – Frau – Angehörige: Die Frau hat sich vergiftet. Diese Staffelung in die Tiefe des Raumes, dieses Erzählen ohne Schnitt in nur einer Einstellung hat einen Guru der Filmkritik, André Bazin, so beeindruckt, dass er den Blick des Zuschauers darin endgültig befreit sah.

Mehr noch als die clevere Erzählperspektive und die souveräne Verwendung aller damals verfügbarer Medien hat diese Erzählweise eine eigene Dynamik entfaltet. Welles war nicht der erste, der die Tiefenschärfe erzählerisch genutzt hat – William Wyler, bekannt für „Ben Hur“ von 1959, hat damit schon in den 1930er Jahren experimentiert. Doch Welles brachte es auf den Punkt. Heute ist diese Technik allgegenwärtig. Bei den Simpsons und in Comedyserien (exzessiv in „King of Queens“) wird sie für visuelle Gags benutzt. Ob Hitchcocks Mord unter der Dusche eine vergleichbare Wirkung hatte? Allenfalls ist diese Szene bekannter.

Nicht, dass damit nun alle Großtaten Welles‘ erwähnt wären. Da ist noch „Touch of Evil“ (Im Zeichen des Bösen, 1957), der als Grabstein, nein als Monument des Film Noirs gilt. Nach diesem Film war das Genre auserzählt, geplündert. Und mögen noch so viele begabte Epigonen wie David Fincher („Gone Girl“, 2014) auf dieser Klaviatur spielen: Kino nach „Touch of Evil“ ist allenfalls noch neo noir.

Wenig ist zu seinem 100. Geburtstag über Orson Welles zu lesen. Vielleicht ließ er sich als Schauspieler, der häufig in zwielichtigen Nebenrollen abtauchte, an den Rand drängen. Vielleicht haben ihn die vielen Projekte, mit denen er nach seinem furiosen Start als Hollywoods Wunderkind gescheitert ist, ausgelaugt. Doch der Schatten, den Orson Welles auch heute noch wirft, ist mächtig.

Timo

Timo Ebbers (37) glaubt nicht an ein Leben nach Hollywood und könnte sich durchaus vorstellen, ein Zimmerchen im Edith-Ruß-Haus für Medienkust zu bewohnen.