„Hany“: Eine ganze Nacht in eineinhalb Stunden

In einer Nacht kann viel passieren. Der tschechische Film „Hany“ beginnt mit einer Warnung: In dieser Nacht sollen die Stadtbewohner das Haus nur verlassen, wenn unbedingt nötig.

Erste Szene: Poet Egon stellt in einer Literaturbar sein neuestes Werk vor. Von dort aus wandert die Kamera weiter, zum Dealer Jirí, der in die Bar platzt. Zu den Freunden Danny, Míla und Hana, die mit der Trennung von ihrem langjährigen Freund kämpft. Viele Figuren stöckeln, rennen und torkeln ins Bild, ihre Geschichten verflechten sich.

Die Hauptfigur aber ist die Kamera. Sie dreht sich um sich selbst. Rasant nähert sie sich den Menschen. Sie klettert Fassaden hoch und schaut, was hinter den Fenstern geschieht.

Faszinierend dabei ist, dass das Bild nie ruckelt, nie springt, nie abreißt: „Hany“ ist fast in einer einzigen Einstellung gedreht.

„Long Take“: Mehr über Filme, die in einer Einstellung gedreht wurden

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Regisseur Michal Samir. Fotos: ATELIER VAVFILM

Nur am Ende gibt es einen Schnitt, einen Akzent, als die Nacht vorbei ist und der Morgen graut. Das Tempo, die Überraschungsmomente, das Gefühl, mittendrin zu sein, machen Spaß. Sensationell ist das Spiel mit der Zeit.

„Hany“ zeigt eine ganze Nacht. Die Kamera ist in Echtzeit dabei. Der Film dauert aber nur eineinhalb Stunden. Eine Spielfilmlänge im Kinosessel, eine gefilmte Nacht auf der Leinwand – das kann eigentlich gar nicht sein. In „Hany“ schon und genau das macht den Film zum Erlebnis.

Am Ende bleibt die Frage: Was passiert schon in einer Nacht? Das Leben streift so an einem vorbei. Es ändert sich nichts. Nur Egon, der Poet, hat für sich etwas erreicht. Aber auch für ihn ist alles wieder beim Alten, als er am Morgen bei seiner Mutter am Küchentisch Suppe isst. Es bleibt ein Gefühl der Leere. Das ist noch nicht einmal schlecht, weil es so verdammt realistisch ist. Schade nur, dass auch die Charaktere an einem vorbeistreifen. Der Zuschauer ist sofort mittendrin, kennt die Menschen und ihre Vorgeschichte aber nicht. Was interessieren ihn da ihre Probleme, ihre Scherze, ihre Kneipen-Philosophien? Das ist ein bisschen so, als hätte man sich beim Zappen mitten in eine Talkshow geschaltet. Es gibt immer wieder Spannungsmomente, aber die Handlung packt einen nicht.

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Vermummte Menschen liefern sich eine Straßenschlacht.

Das ändert auch die sich ankündigende Eskalation – eine Straßenschlacht (Bild) – nicht. Obwohl die Figuren berührende Geschichten erzählen. Obwohl sie in der Nacht Gewalt, Liebe, Trennung und Zerstörungswut erleben. Und wir, die Zuschauer, in der Bar, bei der Schlacht, bei der Party, mittendrin sind.

Trotzdem    ist „Hany“ ein grandioses Experiment und damit mehr als ein inspirierender Beitrag  für Oldenburgs Filmfest – vor allem für Fans mit einem Faible für ausgefallene Kameraeinstellungen.

Das Filmfest Oldenburg zeigt „Hany“  am Freitag, 12. September, um 19 Uhr im Kino Casablanca, und am Sonnabend, 13. September, um 14.30 Uhr im CineK der Kulturetage in tschechischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

 

Diese Filme wurden auch in nur einer Einstellung gedreht: TRAILER

Alfred Hitchcock: Cocktail für eine Leiche (1948)

Zwei junge Männer strangulieren ihren ehemaligen Klassenkameraden zu Tode – ohne Motiv. Sie wollen den perfekten Mord verwirklichen. Auf einer Party Jahre später entbrennt die Diskussion um Mord als Kunstwerk.

Orson Welles: Touch of Evil (1958)

Vor den Augen eines Rauschgiftfahnders und seiner Frau wird an der mexikanisch-amerikanischen Grenze eine Bombe in die Luft gesprengt. Eine Geschichte voller Intrigen entspinnt sich. Berühmt ist die Eröffnungsszene des Films, die in einer langen Einstellung gedreht wurde.

Mike Figgis: Timecode (2000)

Der Film spielt in Los Angeles, in einer Filmproduktionsfirma. Es geht um Castings, Eifersucht und Betrug.

Gustavo Hernández: La Casa Muda (2010)

Der Horrorfilm erzählt von einem Vater und seiner Tochter Laura, die ein leer stehendes Haus renovieren wollen. Schon nach kurzer Zeit hört Laura ein Poltern und findet darauf ihren toten Vater.

Inga Wolter

Tagsüber immer für eine gute Geschichte zu haben. Nachts als Lois Lane im Einsatz, heißt es aus vertrauenswürdigen Quellen.